May 02 2023

Mingi = Todesurteil

ÄTHIOPIEN
Sie werden getötet – von ihren eigenen Eltern. Mingi-Kinder bedeuten Fluch und dürfen nicht leben. Mit unserem Einsatz vor Ort wollen wir die tödlichen Traditionen durchbrechen. Ein Bericht unseres Projektleiters.

Unterwegs in Äthiopien nehme ich an der Eröffnung einer neuen Schule teil, die wir zusammen mit unseren Partnern gebaut haben. Ich besuche unsere Projekte und freue ich mich über die 3000 Kinder, denen wir mit unseren Patenschaften Bildung und eine bessere Zukunft ermöglichen. Kürzlich wurde mir das Schicksal von Kindern bekannt, die beides nie erleben werden. Seitdem lässt es mich nicht mehr los.

Lebendiges Museum
Während im äthiopischen Hochland christliche und islamische Kulturen beheimatet sind, leben im Südwesten des Landes, in einer Region namens Süd Omo einige der traditionellsten animistischen Volksgruppen des Kontinents. Die riesige, halbtrockene und abgelegenen Zone, in der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, wirkt in vielerlei Hinsicht wie ein lebendiges Museum. Hier sind rund zwei Dutzend verschiedene Stämme ansässig. Einige zählen zehntausende, andere nur ein paar Hundert Mitglieder. Zu diesen Stämmen gehören unter anderem die Surma, Kara und Benna Tsemay. So unterschiedlich diese Gruppen auch sind, eines haben sie gemeinsam: Sie töten Mingi-Kinder.

»Zeichen des Unglücks«
Mingi bedeutet Fluch. Die Stämme glauben, dass es zu einer Katastrophe für sie kommt, wenn ein Mingi-Kind nicht getötet wird. So sind nicht nur die Eltern und die Familie des Kindes, sondern letztlich alle Stammesangehörigen dafür verantwortlich, dass ein Mingi-Kind nicht am Leben bleibt.

Es gibt verschiedene Arten von Mingi-Kindern. Die erste Art bezieht sich auf Schwangerschaften vor Abschluss einer rituellen Zeremonie aus drei Teilen. Wird die Frau schwanger, bevor das dritte Ritual abgeschlossen ist, wird das Kind unmittelbar nach der Geburt getötet. Die zweite Art von Mingi ist die Geburt eines Jungen als erstes Kind. Was in vielen Kulturen als Segen gilt, wird hier als Fluch verstanden. Weiter gilt ein Kind als Mingi, wenn seine Mutter schwanger wird, während sie noch stillt. Sowohl das gestillte Kind als auch das Neugeborene gelten als Unglücksbringer für die Gemeinschaft und werden umgebracht.

Die vierte Art von Mingi hat mit den Milchzähnen zu tun. Wessen erster Zahn im Oberkiefer durchbricht, ist ein Mingi-Kind und muss beseitigt werden. Des Weiteren ist das tödliche Schicksal des Kindes besiegelt, wenn ein Zahn zu früh auf natürliche Weise herausfällt oder beim Spielen abgebrochen ist. Nur Kinder, deren Zähne im Alter von sechs oder sieben Jahren von einem Mitglied der Gemeinschaft gezogen werden, entgehen diesem »Fluch«.

Wenn es die eigene Familie nicht fertigbringt, das Kind zu töten, wird dies von der Gemeinschaft erledigt. Die Tötungszeremonie für Mingi-Kinder wird in der Regel von den Ältesten durchgeführt. Hunderte von Kindern finden so jedes Jahr den Tod.

Tödliche Traditionen durchbrechen
Niemand in der Gemeinschaft, nicht einmal die Stammesführer, wissen, wann genau das Töten der Mingi-Kinder begonnen hat. Es hinterlässt in den Familien ein Trauma. Ein Betroffener sagt: »Auch nach so vielen Jahren habe ich die Ermordung meiner beiden Schwestern nicht überwunden.«

Das Morden der Kinder richtet sich im Kern gegen Gott, der sie geschaffen hat und liebt. Kinder sind ein Geschenk Gottes und kein Fluch. Wir unterstützen unsere Partner, die sich im direkten Kontakt mit den betroffenen Stämmen sowie bei Treffen mit Beamten der Region gegen die Tötung der Mingi-Kinder einsetzen.

Die jüngste Sitzung, die sich mit Kindermord und vielen anderen, äusserst destruktiven kulturellen Praktiken beschäftigt hat, fand im Januar dieses Jahres statt. Daran teilgenommen haben Vertreter der einzelnen Volksgruppen wie Clanführer, Älteste oder religiöse Führer, verantwortliche Frauen- und Kinderbeauftragte der Region und weitere Spezialisten. Aufgrund der tiefen Verwurzelung der Rituale über viele Generationen ist jedoch ein längerer Prozess erforderlich, um ein Umdenken in den Stämmen zu erreichen.

Nicht selten setzen die Stammesführer am Runden Tisch getroffene Entscheidungen nicht um, während die Regierung machtlos und nicht in der Lage ist, Gesetze durchzusetzen. Nur wenn sich die wichtigsten Führer und einflussreichsten Mitglieder in den Stämmen gegen das Morden aussprechen und sich aktiv für dessen Beenden einsetzen, kann das unsägliche Töten unschuldiger Kinder gestoppt werden.

Erste Erfolge
Es sind aber auch erste Erfolge zu erkennen. In jüngerer Zeit erlauben einige Stammesälteste, Mingi-Kinder aus ihren Dörfern wegzugeben, wenn sie anderswo Aufnahme finden, etwa bei entfernten Verwandten. In unserem Nehemia-Patenschaftsprojekt in Keyafer im Benna-Tsemay-Distrikt haben wir bereits 73 Mingi-Kinder aufgenommen. Dazu führen wir zahlreiche Gespräche zum Zweck der Aufklärung, die zu einem Bewusstseinswandel unter den Führern und Angehörigen der Stämme beitragen soll.

Ich liebe meine Familie. Wenn ich auch nur daran denke, dass ich meinen erstgeborenen Sohn und später dann unseren ersten Enkel hätte umbringen (lassen) müssen, wird mir schlecht. So liegt mir dieses Projekt sehr am Herzen. Wir wollen wehrlose Kinder retten und die Kette des Fluches durchbrechen. Bitte beten Sie dafür, dass es schnell gelingt. Jedes einzelne Kind, das vor dem Tod gerettet wird, ist unseren Einsatz wert.



Stay informed

Every commitment starts by staying informed. We have several free offers for you, in digital and printed from (in German and French). Stay up to date.
Slogan Footer