
Ein anderer Sudan
In den Nuba Mountains scheint die Zeit seit hunderten von Jahren stillzustehen. Durch die spärlich besiedelte, von Hügeln durchzogene Savannenlandschaft an der Grenze zum Südsudan führen so gut wie keine Strassen. Nur selten bahnt sich ein Auto oder ein Motorrad seinen Weg über die staubigen, unbefestigten Wege. Ab und zu sind Menschen mit einem Esel oder einem Kamel anzutreffen. Meistens sind die Einheimischen aber zu Fuss und schwer beladen unterwegs. Für einen Sack Reis laufen sie mehrere Tage bis in den Südsudan und wieder zurück zu ihren runden, einfachen Hütten mit Strohdach. Ein Mobilfunknetz gibt es nicht und von der sogenannten Zivilisation kennen die Wenigsten nicht mehr als die Flugzeuge, die ab und zu über sie hinwegfliegen.
Wunsch nach Unabhängigkeit
Den Grossteil der Nuba Mountains regiert die Gruppe Sudan People’s Liberation Movement-North (SPLM-N), die nicht in den blutigen Bürgerkrieg involviert ist. Die Nuba sind nach Jahrzehnten der arabisch dominierten Unterdrückung aus Khartum bereit für einen Wandel und scheinen deshalb hinter der SPLM-N zu stehen. Viele hier hegen den Wunsch nach Unabhängigkeit und träumen von einem Land, das ihnen Frieden und Religionsfreiheit garantiert. Die Nuba Mountains sind im Moment ein friedlicher Ort. Die hiesigen Machthaber erscheinen liberal und legen viel Wert darauf, dass die Angehörigen der verschiedenen Religionen untereinander auskommen.
Der Bürgerkrieg im Sudan, in dem zwei verfeindete Generäle um die Vorherrschaft kämpfen, hat nahezu das gesamte restliche Land erfasst und die aktuell weltweit grösste Flüchtlingswelle mit über zehn Millionen Menschen ausgelöst. Mehr als 750 000 dieser Flüchtlinge sind in den südlichen Teil des Landes migriert.
In den Nuba Mountains konnte unser früherer Partner Pastor B., der 2022 verstarb, vor vier Jahren in nahezu prophetischer Weitsicht ein Stück Land von 60 ha erwerben. Denn in direkter Nachbarschaft haben sich bereits 10 000 Binnenvertriebene angesiedelt. Und diesen wollen wir nun helfen.
Wasser und Landwirtschaft
Vor wenigen Tagen wurde auf dem Terrain ein Brunnen errichtet. Sauberes Wasser, in der gesamten Region Mangelware, ermöglicht den Menschen ein sesshaftes Leben und beugt Krankheiten vor. Der Boden ist fruchtbar. Im Juni beginnt die Regenzeit, dann werden die Felder bestellt. Unser Team möchte vor Ort mit den Flüchtlingen Getreide, Gemüse und Obst auf dem bislang ungenutzten Grundstück anbauen. AVC liefert dazu Werkzeug und Saatgut, sodass mit dem zweiten und dritten Regen ausgesät und einige Monate später geerntet werden kann.
Hilfe zur Selbsthilfe ist die effizienteste Art, in dieser Gegend humanitär zu wirken. Finanziell wesentlich aufwändiger und logistisch herausfordernder wäre der Import von Lebensmitteln. Diese müssten aus dem Südsudan herbeigeführt werden – zuerst mit dem Flugzeug bis an die Grenze und dann mit Fahrzeugen stundenlang durch äusserst unwegsames Gelände. Die beste Strategie ist deshalb Ackerbau vor Ort. Auf dem Areal sind auch eine Kirche und eine Schule mit christlichem Lehrkörper geplant.
Ein Fest in der Schule
Kürzlich besuchte eine Delegation von AVC das Projekt. In den Nuba Mountains sind wir schon seit Jahren aktiv und führen sechs Schulen mit insgesamt 1500 Kindern und Jugendlichen. Als das Team unserer Sekundarschule einen Besuch abstattete, gab es ein grosses Fest. Die Schüler und Lehrer, die muslimischen Dorfältesten, Angehörige des Militärs und lokale Politiker liessen es sich nicht nehmen, das Zusammentreffen mit uns zu feiern.
Aufruf an die Politiker
In seiner Ansprache machte Sacha Ernst, Leiter AVC Schweiz, den Zuhörern Mut, auf ihre Hoffnung zu fokussieren. Er verdeutlichte dies am biblischen Beispiel von Josua. Nachdem dieser am Tag vor der Schlacht in Jericho alleine vor dem Lager der Hebräer war, stand ihm Christus mit gezücktem Schwert in der Hand gegenüber. Josua warf sich vor ihm nieder und betete ihn an. Der »Fürst über das Heer des Herrn« forderte ihn auf, seine Schuhe auszuziehen, weil er auf heiligem Boden stand. »Beugt eure Knie, demütigt euch vor Christus und unterwerft euch Gott«, rief Sacha Ernst den politischen Verantwortungsträgern zu. »Dann wird er euch in die Freiheit führen – auch wenn es eine andere Freiheit ist als jene, die ihr vorhabt.« Symbolisch überreichte er den Dorfältesten und Politikern eine Uhr mit dem Hinweis: »Eure Zeit steht in Gottes Händen, kauft sie gut aus. Ihr habt Verantwortung für dieses Volk.«

